Über den Trauerfall (2)
Hier finden Sie ganz besondere Erinnerungen an Dirk Vorberg, wie z.B. Bilder von schönen Momenten, die Trauerrede oder die Lebensgeschichte.
Nachruf
04.02.2021 um 20:18 Uhr von Rainer
Am 14. Januar 2021 verstarb Dirk Vorberg in Münster im Alter von 78 Jahren an einem Krebsleiden. Unermüdliches Engagement für die Wissenschaft, der lebenslange Erwerb und das Schaffen von neuem Wissen war zentraler Bestandteil seines Lebens. Er konnte Studierende und Kollegen*innen für die mathematische, experimentelle und kognitive Psychologie begeistern wie kaum ein anderer. Er besaß die Gabe komplexe Sachverhalte in bewundernswerter Klarheit und Verständlichkeit zu formulieren. Dirk Vorberg forderte und förderte seine Schüler*innen und stimulierte die Karrieren zahlreicher Wissenschaftler*innen. Sein fundiertes und immer aktuelles Wissen in Mathematischer und Kognitiver Psychologie und sein methodischer Scharfsinn wurden bewundert und geschätzt, bisweilen aber auch gefürchtet: Dirk Vorberg war bekannt für seine zielsicheren Fragen nach Vorträgen z.B. auf wissenschaftlichen Konferenzen wie der Tagung experimentell arbeitender Psychologen, die immer wieder auch methodische Schwächen von Studien zum Vorschein brachten. Mit seinem breiten, über die Fächergrenzen weit hinausgehendem Wissen, seinen tiefen und umfangreichen methodologischen Kenntnissen und seiner wissenschaftlichen Kreativität trug er zu einer Vielzahl wegbereitender Entwicklungen in der Kognitionsforschung bei.
Dirk Vorberg wurde am 5. Juli 1942 in Stettin geboren. Er wuchs in Wuppertal auf wo er 1962 das Abitur am Gymnasium Siegesstraße ablegte. Im gleichen Jahr nahm er das Studium der Psychologie an den Universitäten Marburg und Hamburg auf. In Marburg erwarb er 1967 das Diplom in Psychologie. Dirk Vorberg wechselte im Anschluss an die Technische Universität Darmstadt wo er 1970 in Mathematischer Psychologie bei Klaus Eyferth promovierte. Ab 1969 arbeitete er als wissenschaftlicher Assistent an der Universität Konstanz und habilitierte dort im Jahr 1974. Im gleichen Jahr trat er an der Universität Konstanz eine Professur (C2/C3) für Experimentelle und Mathematische Psychologie an. Dirk Vorberg folgte 1983 einem Ruf an die Universität Marburg auf den Lehrstuhl für Allgemeine Psychologie: Hier widmete er sich nun verstärkt in Lehre und Forschung neben der Mathematischen Psychologie auch der Kognitiven Modellierung und der künstlichen Intelligenzforschung, und trug massgeblich zu deren Etablierung in der deutschen Psychologie bei. Im Jahre 1990 wechselte er an die Technische Universität Braunschweig wo er bis 2008 als C4 Professor für Allgemeine Psychologie tätig war. In der Zeit von 1994-1999 war Dirk Vorberg zudem externes Mitglied der Graduiertenschule 'Kognitionswissenschaften' an der Universität Hamburg. Ab dem Jahr 2008 hielt er bis zu seinem Tod eine Gastprofessur im Institut für Psychologie der Westfälischen Wilhelms Universität Münster inne.
Im Rahmen seiner wissenschaftlichen Assistenzzeit in Konstanz verbrachte Dirk Vorberg 1972 bis 1973 einen Forschungsaufenthalt an der New York University und an der Rockefeller University wo er zusammen mit Jean-Claude Falmagne, Bill Estes und George Sperling forschte. Von 1979 bis 1980 war er Gastwissenschaftler bei Saul Sternberg in der 'Human Information Processing Group' an den Bell Laboratories in New Jersey tätig. Die Aufenthalte in den USA prägten seinen offenen Arbeitsstil und den persönlichen Umgang mit Studierenden und Mitarbeiter*innen. Die Zusammenarbeit mit Pionieren der Kognitiven Psychologie und die komputationalen Möglichkeiten an den Bell Laboratories weckten sein Interesse, höhere kognitive Prozesse wie Programmieren und Problemlösen zu erforschen. Die Anwendung und Erweiterung seiner Modellierkenntnisse auf neue Themenbereiche wurde auch im Rahmen einer Reihe von Gastprofessuren und Sabbaticals verfolgt: 1988/1989 am Max-Planck-Institut für Psycholinguistik in Nijmegen; 1997 an der Universität Potsdam im Innovationskolleg „Formale Modelle kognitiver Komplexität und schließlich im Wintersemester 2000/2001 an der Universität Maastricht in der Abteilung Kognitive Neurowissenschaften der Fakultät für Psychologie und Neurowissenschaften.
Dirk Vorbergs Forschung war bekannt für ihre gekonnte Nutzung von experimentellen Forschungsansätzen und der Anwendung mathematischer Modellierung. Inhaltich beschäftigte er sich vor allem mit der Modellierung von Reaktionszeiten, der zeitlichen Kontrolle und Synchronisation rhythmischen Verhaltens, bewusster und unbewusster Wahrnehmung sowie visueller Aufmerksamkeit. Diesen (und anderen) Themengebieten widmete er sich nicht nacheinander sondern immer wieder in Zyklen, in denen er primär einen Bereich für einige Zeit in den Vordergrund seines Interesses rückte.
Wichtige frühe Beiträge von Dirk Vorberg waren die Herleitung der Äquivalenz von parallelen und seriellen informationsverarbeitenden Modellen (10th Annual Mathematical Psychological Meeting, 1977) und eine erste Forschungsarbeit zur zeitlichen Steuerung rhythmischen Verhaltens (Vorberg und Hambuch, 1978). Er untersuchte und modellierte (unerwartete) Folgen von zufälliger Variabilität in mathematisch modellierten Wettlaufmodellen (Race Models) z.B. bei Stroop-Aufgaben (1985), was auch fester Bestandteil in seinen Kursen zur mathematischen Psychologie wurde. Seine Expertise zur Modellierung von Reaktionszeiten (z.B. Vorberg & Schwarz, 1991, Colonius & Vorberg, 1994, Ulrich & Vorberg, 2009) trug maßgeblich zum Verständnis der Sequenzierung kognitiver Teilprozesse bei, z.B. beim Benennen von Bildern (Levelt et al., 1991) oder multisensorischen Verarbeitungsprozessen (Gondan et al., 2007). Im Bereich Timing und Synchronisation veröffentlichte Dirk Vorberg maßgebende Grundlagenarbeiten (z.B. Vorberg & Wing, 1996; Semjen et al., 1998, 2000; Vorberg & Schulze, 2002; Schulze et al., 2005; Wing et al., 2014).
In den 80er Jahren wurde Dirk Vorberg von den neu entstehenden Möglichkeiten kognitive Prozesse mit immer leistungsfähigeren Computern als Algorithmen abbilden zu können fasziniert. Er erkannte schon sehr früh, dass sich hier die Chance für die Psychologie ergeben könnte, komplexe kognitive Prozesse zu erforschen, die sich nur schwer mit mathematischen Modellen erfassen ließen. Von seiner eigenen Begeisterung für das Lösen mathematischer Probleme und Denksportaufgaben getrieben, setzte er sich zum Ziel, genuine Problemlöseprozesse aufzuklären. Dabei konzentrierte er sich auf den Einsatz von Heuristiken, insbesondere des Trainings von 'rekursivem Denken'. Im Rahmen des DFG Projektes 'Programmieren als Problemlösen' wandte er dies auf das Werkzeug selbst an, denn die kognitive Modellierung bediente sich rekursiver Programmiersprachen wie LOGO und Lisp. Das zielgerichtete Erlernen der Programmiersprache LOGO zur Lösung komplexer Probleme wurde in zeitaufwendigen Studien mit wenigen - (meist) laut denkenden - Studierenden über Monate verfolgt. Diese wurden im rekursivem Denken trainiert (Vorberg & Goebel, 1991) und ihre Fortschritte im rekursiven Problemlösen wurden anschließend simuliert (Goebel & Vorberg, 1991). Der verwendete Untersuchungsraum im Psychologischen Institut der Universität Marburg glich dabei bereits vor 35 Jahren einem modernen KI / Robotik Labor: die Probanden*innen erhielten die Aufgabe Algorithmen zu entwickeln, die ein Schildkrötenmodell aus unterschiedlichsten Labyrinthen führen sollte oder sie mussten Programme entwickeln, die es einem Roboterarm ermöglichen sollten, gezielte Greifbewegungen auszuführen.
In seiner Braunschweiger Zeit rückten kognitive Themen wie räumliche Aufmerksamkeitswechsel, numerische Kognition (Blankenberger & Vorberg, 1997), subliminale Wahrnehmung (z.B. Vorberg et al., 2003; Schmidt & Vorberg, 2006) und psychophysische Methoden in den Vordergrund seines Interesses. Dabei verband er die Modellierung von Reaktionszeiten mit kreativen experimentellen Ideen und entwickelte mitunter ästhetische visuellen Reize für seine Forschung (z.B. sein lokal-global Umschaltsymbol oder seine maskierenden Priming-Pfeile). Wegweisend waren auch Studien zur Entkopplung von Blickrichtung und verdeckter Aufmerksamkeit und das Trainieren einer Pseudo-Fovea (Lingnau et al., 2008, 2010, 2014) als Therapieansatz für die Kompensation von makularer Degeneration - ein Leiden, das ihn selbst in den letzten Jahren seines Lebens ereilte.
Dirk Vorberg war ein immer authentischer und integrer Wissenschaftler. Wer ihn näher kennen lernen durfte erlebte ihn als humorvollen, herzlichen, stets neugierigen und enorm vielfältig interessierten Menschen. Viele werden sich an intensive wissenschaftliche Streitgespräche mit ihm erinnern. Von seinen klugen Gedanken und Ratschlägen habe viele profitiert, seine Schüler*innen, Kollegen*innen aber auch viele Institutionen der Wissenschaft. Zu den unvergessenen Facetten seiner vielseitigen und reichen Persönlichkeit gehören auch die Liebe zur klassischen Musik und zum Jazz sowie seine große Virtuosität am Piano. Mit Dirk Vorberg hat die Deutsche Psychologie einen ihrer Wegbereiter der Kognitiven und Mathematischen Psychologie verloren. Wir werden Dirk Vorberg als leidenschaftlichen Wissenschaftler, engagierten Lehrer und großzügigen Menschen vermissen.
Rainer Goebel