Kirsten Sturm

Kirsten Sturm

geb. Lindegren
* 13.09.1944 in Kittelsthal/Thüringen
† 15.04.2020 in Unterhaching bei München
Erstellt von Kirsten Sturm
Angelegt am 18.04.2020
3.652 Besuche

Über den Trauerfall (2)

Hier finden Sie ganz besondere Erinnerungen an Kirsten Sturm, wie z.B. Bilder von schönen Momenten, die Trauerrede oder die Lebensgeschichte.

29.06.2020 um 15:49 Uhr von Kirsten
Foto 1 für Kirsten Sturm

Vollständige Trauerrede des Witwers Ingo Sturm anlässlich der Urnenbeisetzung im Familiengrab der Lindegrens in Eisenach.

19.05.2020 um 20:38 Uhr von Kirsten

(Am Beisetzungstag, Sa. 16.05.2020 wurde mit Rücksicht auf die Trauergäste wegen des kalten Tages von mir nur eine verkürzte Version vorgetragen)

 

Gespielt wurde der von der Verstorbenen gewünschte Titel:

 „Weit weit weg“ Hubert von Goisern 1999

 

Ja, Kirsti, jetzt bist Du endgültig so weit weg, dass ich Dir lebend nicht mehr folgen kann.

Du bist bei Deinem Gott, an den Du fest glaubtest und ich vermute Du findest ihn wieder in Deinem Wald rund um die Wartburg in den Du zurückgekehrt bist.

Ich aber sage, da ist nichts mehr, da entstehen nur Quanten aus dem „Nichts“ und vernichten sich sofort wieder zum „Nichts“. Damit bleibt die Summe aller Energien immer Null und Alles im Gleichgewicht.

Hier hättest Du sofort eingehackt und gesagt: „Ingo, Du bist hier nicht in einem Physikseminar sondern bei meiner Trauerfeier.“  

Da ich in 52 Ehejahren gelernt habe, wie man Streit aus dem Wege geht, wechsle ich lieber sofort das Thema und schaue weit zurück auf das Jahr 1961. Die Mauer in Berlin war noch ein frischer Drahtverhau, die Sommerferien waren vorbei und ich war frustriert, weil eine Ferienliebelei für mich im Fiasko endete.

Da sah ich ein Mädchen aus der Parallelklasse am „Ernst Abbe“ Gymnasium Eisenach,  eine römische Schönheit, mit wippendem, dunkel-kastanienbraunen Pferdeschwanz, rehbraunen Augen und einem schwebendem Gang im hellblauen Rock mit einer entzückenden, von Ihre Mutter liebevoll gehekelten weißen Bluse. Ich habe mich sofort unsterblich verliebt, es ging gar nicht anders.

Da haben alle meine lieben Mitbewerber gelacht und gesagt: „Die Kirsten kriegst Du nie!“. 

Es sollte anders kommen, ich passte Sie, wann immer es ging, auf dem Weg zur Abbe-Penne ab und erwischte sie bei der Brauerei, da wo vom Karlsplatz kommend die Löberstraße auf die  Wartburgallee stößt.

Sie beachtete mich absichtlich nicht, blieb ganz cool. Da bin ich auf die Idee gekommen, sie mit unserem köstlichen Cox Orange von dem Baum, den noch mein Großvater in unserem großen Garten angepflanzt hat, zu locken. Das hat dann nach vielen vergeblichen Versuchen letztendlich doch funktioniert. Sie hat nach etlichen von mir gereichten und von ihr gegessenen Äpfeln und acht Jahre später einen prächtigen Jungen, „Matthias“ auf die Welt gebracht. Der steht jetzt neben mir, ist ein anerkannter Künstler der Gegenwart-Kunst geworden ( https://de.wikipedia.org/wiki/Matthias_Sturm ), einen halben Kopf größer als ich und wesentlich stärker.

Leider war die Pflege des Wunschjungen nach anfänglichem Zunehmen nach Tabelle plötzlich nicht mehr so problemlos wie gedacht:  Er lag blass in seinem Bettchen und vertrug nicht mehr das, was Kleinkinder sonst vertragen: Milch, Breichen, Brot etc. Nach einer langen Arie von Arztkonsultationen, die zunächst nichts brachten, wurde von Frau Prof. Dr. Fiehring an der Erfurter Kinderklinik diagnostiziert: Das Jungchen hat Disacharidasenmangel und sein Darm hat die „so gesunde Muttermilch“, die er reichlich genoss, nicht vertragen und muss strengstens diätarisch ernährt werden. Dieser Aufgabe widmete sich seine Mutter mit eiserner Konsequenz: Sie hängte Ihren Lehrerberuf an den Nagel und umsorgte unseren kleinen Jungen mit ihrer ganzen Kraft bis er ganz gesund wurde und zu unserem und seinem Leidwesen in die Nationale Volksarmee zum „Schutze der Deutschen Demokratischen Republik“ gepresst wurde.

Nun hätte man annehmen können, dass damit eine Frau vollständig ausgelastet sein sollte:

„Beschaffen von Bananen aus dem Reifekeller bei Gotha“ (zu DDR-Zeiten nur möglich mit Spezialrezepten), „Möhrenbrei mit Traubenzucker oder Fruchtzucker“, „Saucen ohne Mehl“, „Brot backen aus Cherathon & Kerapit“, etc., etc. Die sonstige Hausarbeit war ja auch noch zu bewältigen. Selbst mit meiner Hilfe war das ein Full-Time-Job.

Nein, Ihr Intellekt verlangte nach geistiger Nahrung, sie hatte ja nicht umsonst das Staatsexamen in Slawistik/Germanistik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena an der Phil. Fakultät bei Prof. Dr. H. Jünger mit „Sehr gut“ abgeschlossen. So begann Ihr professionelles Literatentum mit Rezensionen anspruchsvoller Belletristik mit dem Spezialgebiet russischer und sowjetischer Literatur in freiberuflicher Auftragsarbeit für die Kulturredaktionen verschiedener Tageszeitungen. Herr Stade, damals Kulturredakteur bei der Zeitung 

„Das Volk“ in Erfurt, heute ein bekannter Thüringer Autor, hat mir Ihre professionelle und stets vergnügliche Zusammenarbeit in seinem Kondolenzbrief bekundet. 

Ihre Arbeitsweise war bewundernswürdig:

Jedes Buch, ob es ihr gefiel oder nicht, wurde dreimal gelesen, aus verschiedenen Blickwinkeln beurteilt, exzerpiert am Rand des Belegexemplars selbst, oder wenn Sie das Buch behalten wollte in gewöhnlichen Schreibheften in einer nur Ihr selbst verständlichen Schrift und Symbolen. Dann produzierte Sie einen vorläufigen Text, meist auch noch unleserlich um dann zum Schluss in gestochener Handschrift aus z.B. einem 600 Seiten Roman auf den Ihr zugestandenen 16 bis 20 Zeilen Text den Extrakt zu ziehen, der dem Leser Vergnügen bereitete, das literarische Produkt treffend charakterisierte, den Inhalt umriss und auch noch kritisch beurteilte.

Dabei war sie völlig uneitel. Sie hat Stapel von Rezensionen selbst wieder weggeworfen. Wenn ich später nicht Ihre Texte in den Laptop getippt hätte, denn davor hatte sie einen Horror, wäre Ihre Arbeit der Nachwelt nur verstreut in Zeitungsarchiven erhalten geblieben.

Bezeichnend für Ihre Bescheidenheit, die an Minimalismus grenzte, war das Prozedere zur Auswahl des Buchdeckel-Layouts für ihr kleines Büchlein „Symbiose“ mit den Pockettexten: Der TRIGA-Verlag legte Ihr 4 verschiedene Entwürfe vor, von denen Sie sich einen auswählen durfte. Sie wählte mit absoluter Zielsicherheit den aus, der am einfachsten, schmucklosesten und am wenigsten auffallend war. Hätte ich nicht massiv eingegriffen, wäre das Büchlein damals auf dem Messestand des Verlages zur Leipziger Buchmesse von 2001 überhaupt nicht aufgefallen. 

Ich sehe heute noch vor meinem geistigen Auge die leuchtend bunte Regalwand mit den „Symbiose“-Büchleins vor mir.

Nur eine kleine sehr verständliche Schwäche zeigte sie: Sie wartete immer ungeduldig auf das Gedruckte; riss es auf, las es mit Genugtuung und sagte: „Er hat es so gebracht!“

Ich erinnere, dass sie auf unseren zahlreichen meist sehr langen Wanderungen durch die sächsische Schweiz, den Küstenlinien folgend an Ost und Nordsee und in den bayerischen Bergen oft nach einem Bleistiftstummel verlangte, den ich immer bei mir hatte, um eine kleine Wendung aufzuschreiben, die sie dann in der nächsten Rezension verwendete.

Ich glaube es gab und gibt nur wenige Menschen mit einem so klaren Verstand, ein so treffendes Urteilsvermögen und der Fähigkeit auf den ersten Blick zu erkennen, was der oder die gegenüber Stehenden eigentlich im Schilde führen. 

Sie war im wahrsten Sinne des Wortes eine Intellektuelle. 

Dabei hat sie sich vor keiner Arbeit gescheut. Sie hat in den Münchner Tagen mit großer Selbstverständlichkeit als Arzthelferin gearbeitet, was ja weit unter Ihrem Niveau lag. Schließlich hat Sie am Deutschen Hygienemuseum in Dresden Aufgabenstellungen für gesundheitserzieherische Filme nach wissenschaftlichen Grundsätzen ausgearbeitet und die Produktion als Auftraggeberin für das DEFA-Dokumentarfilmstudio Babelsberg überwacht. Dabei entstand Ende der 80ziger Jahre u.a. der erste aufklärerische DDR-Film über Homosexualität „Die andere Liebe“ und noch 6 weitere Filme. Das bewältigte sie auf einer halben Planstelle, mit nicht bezahlter Nachtarbeit, zu Hause und am Wochenende nach unseren Wanderungen in der sächsischen Schweiz. Nebenher, wen wundert´s noch, schrieb sie Rezensionen für die „Union“ in Dresden.

Die Mitarbeit im Pressezentrum der ersten Dresdner Musikfestspiele 1978 war Ihr regelrecht auf den „Leib geschrieben“. Die 16 Tage von höchster Musikkultur in Dresden gehörten zu den Highlights Ihres und auch meines Lebens: Herbert von Karajan mit den Berliner Philharmonikern gastierte in „Elbflorenz“ und wir durften dabei sein. Von Ihm ist der berühmte Spruch überliefert: „Ich dirigiere nur in Dresden und nicht in Berlin, denn in Berlin dirigiere ich ja schon“. Jeden Abend kam meine Frau ebenso begeistert wie spät nach Hause an den Schilfweg und berichtete wieder wen Berühmtes sie sprechen, interviven oder in Ihren Presseanzeigen vorstellen durfte: „Ein Hauch der Freien Welt wehte durch das Thal der Ahnungslosen“.

Ich erinnere, sie war auch beim berühmten Theo Adam am Weißen Hirsch zu einem Intervive zugelassen.

Ihre Vielseitigkeit hatte kaum Grenzen.

Ihr Gedächtnis war phänomenal: Zwei Tage vor ihrem Tod am Ostermontag kam unsere Hausärztin zu uns, um sie zu untersuchen und zu behandeln. Sie war seinerzeit Ihre Chefin. Nach der Visite gingen die beiden Frauen zum gemütlichen Teil des Nachmittags über und warfen sich die gemeinsamen Erinnerungen gegenseitig zu. Kirsten erinnerte sich an alle Namen der damaligen Patienten und das waren nicht nur deutsche, sondern Türken, Afghanen, Ägypter, Inder, Asiaten und Afrikaner unsere Ärztin hatte sie alle längst vergessen, das lag ja schon 23 Jahre zurück. Sie wusste natürlich auch noch, was für Krankheiten sie hatten. 

Nebenher hat sie Rezensionen für den St. Michaelsbund für „Gottes Lohn“ geschrieben, das waren immer Terminarbeiten wegen Erstausgaben, Jubiläen etc. Die damalige Sekretärin, die für die Organisation, Koordinierung und Veröffentlichung in den „Buchprofilen“ zuständig und letztendlich auch mit Kirsten befreundet war, hat an gleicher Stelle Ihr sehr lesenswertes Kondolenzschreiben veröffentlicht.

 

Spätestens hier hätte meine liebe Frau eingehackt: „Fasse dich kurz, Du kannst einfach nicht telefonieren, komme zum Ende“

 

Deshalb will ich jetzt nur noch Kirsten Sturm zu Wort kommen lassen, denn Sie hat es auf den Punkt gebracht:

 

Das Irgendwann tröstet mich nicht.

Auch nicht das Irgendwo.

Denn meine Zeit ist begrenzt.